So geht Versöhnung!

Gedanken aus dem Kreuz&Quer-Gottesdienst vom 5. März 2023

  

"Nagelkreuz" gefertigt von Monika Berg

Im Kreuz und Quer- Gottesdienst am 5. März ging es um das
Thema „Versöhnung“ in einer Welt, in der so viel Unfrieden
herrscht.

Dabei ging es sehr nachdenklich zu.

Was braucht es, damit Frieden gelingen kann
im Kleinen wie im Großen?

Wie kommen wir dahin, dass wir einander das Unrecht
verzeihen können, das wir uns gegenseitig antun? Und
wie wird aus Verzeihen schließlich eine Versöhnung?
Und was ist das überhaupt genau, Versöhnung?

 

Am 14. November 1940 war die mittelenglische Stadt Coventry Ziel der sogenannten „Operation Mondscheinsonate“. In dieser militärischen Operation griffen deutsche Kampfgeschwader die Stadt Coventry an, in der sich, wie man wusste, Munitionsfabriken befanden.

550 Flugzeuge machten sich auf den Weg, um Tod und Zerstörung zu bringen.  Um 19.20 Uhr wurden die ersten Leuchtbomben abgeworfen. Danach kamen Sprengbomben und Brandbomben. Dächer wurden aufgesprengt und Straßen aufgerissen. Häuser wurden zerstört.

Die Kathedrale von Coventry, das große Gotteshaus der Stadt, stand um 20 Uhr in Flammen. Da gleichzeitig auch das Gebäude der Feuerwehr getroffen wurde, war es unmöglich, das Gotteshaus zu retten. Die ganze Nacht über kamen die Bomben über die Stadt. 500 Tonnen Sprengbomben und 36.000 Brandbomben trafen die Stadt. 568 Menschen kamen ums Leben, 1000 weitere Menschen wurden schwer verletzt. 60.000 Gebäude wurden getroffen, 4000 davon waren komplett zerstört. Fast das ganze Stadtzentrum war dem Erdboden gleichgemacht worden. Erst um 6.15 Uhr wurde Entwarnung gegeben.

Die Kathedrale, der Stolz der Stadt, wurde bei dem Angriff fast komplett zerstört. Das Dach existierte nicht mehr. Die Einbauten waren verbrannt. Übrig blieben ein paar Außenmauern der Apsis und kleine Türme. Und ein Haufen Schutt im Inneren. Der Domprobst Richard Howard leitete die Aufräumarbeiten. In den Ruinen des Gotteshauses fand er einige Zimmermannsnägel vom verbrannten Dach. Aus ihnen fertigte er ein Kreuz: Das Nagelkreuz von Coventry.

In die Chorwand der Apsis ließ er einen Schriftzug meißeln. Ein Wort aus der Bibel. Es waren nur zwei Worte, die er brauchte:

Father, forgive. (Vater, vergib).

Dazu Worte von Pfarrerin Monika Holthoff :

„Father forgive. Vater, vergib.“ Richard Howard hätte auch andere Worte in die Chorwand der Kirchenruine von Coventry meißeln lassen können. 568 Menschen waren am 14. November 1940 in der mittelenglischen Stadt gestorben; die verletzten Männer, Frauen und Kinder hat wohl keiner gezählt.

Der Kirchenmann hätte Worte der Klage an die Wand schreiben können. Er hätte sie in der Bibel gefunden. Im Buch Hiob etwa oder in den Klageliedern Jeremias. Die beginnen so: „Wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volks war! (…) Sie weint des Nachts, dass ihr die Tränen über die Backen laufen.“

Der Dompropst hätte auch den Ruf nach Vergeltung aus Psalm 94 zitieren können: „Herr, du Gott der Vergeltung, du Gott der Vergeltung, erscheine! Erhebe dich, du Richter der Welt; vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen!“ Die vielen Toten und Verletzten waren ja nicht Opfer eines Unglücksfalls sondern eines Bombenangriffs. Deutsche Bomben hatten weite Teile der Stadt, darunter die mittelalterliche Kathedrale St. Michael, zerstört.

Doch als die Ruinen des Gotteshauses vom Schutt befreit waren, ließ Richard Howard in der erhalten gebliebenen Apsis nicht Worte der Klage und nicht Worte der Rache sondern Worte der Versöhnung anbringen.

Er fand sie im Lukasevangelium. Im vorletzten Kapitel erzählt der Evangelist die Kreuzigung Jesu: „Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: ‚Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.’“ „Father forgive“ ist nun an der Stirnwand der Ruine der Kathedrale von Coventry zu lesen: „Vater, vergib.“

„Vater, vergib.“ steht da. Nicht: „Vater, vergib ihnen“ wie es im Evangelium heißt.

Schon das wäre eine großartige Geste gewesen. Eine Geste im Sinne Jesu: „Vater, vergib ihnen. Vergib denen, die uns das angetan haben, Vergib den deutschen Kriegsgegnern, die unsere Stadt zerstörten und uns unsere Lieben nahmen. Vergib denen, die den tödlichen Befehl erteilten und vergib denen, die ihn ausführten.“

Aber der Dompropst lässt es bei den beiden Worten: „Vater, vergib.“ Das lässt den Blick weiter werden: „Vater, vergib. Vergib uns allen, was wir dir und anderen Menschen schuldig blieben und was wir ihnen antaten. Vergib uns allen unsere Schuld – gleich welchem Volk oder welcher Kriegspartei wir angehören mögen.

Der Pfarrer macht ernst mit dem, was der Apostel Pauls in seinem Brief an die Römer schreibt: „Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ (Römer 3, 23).

Ich finde, man kann nur staunen über diese Geistes- und Glaubensgröße. Mitten im Krieg, mitten in der Zerstörung hat der Domprobst verstanden, dass Versöhnung nur funktioniert, wenn man die Augen auch vor der eigenen Schuld nicht verschließt.

Versöhnung passiert nicht, wenn man sich gegenseitig beschuldigt und Schuld um Schuld miteinander aufrechnet. Versöhnung passiert auch nicht im Stillstand, wenn man sich meidet und nichts mehr miteinander zu tun haben will. Versöhnung kann erst anfangen, wenn alle Parteien begreifen: Wir haben alle etwas falsch gemacht. Wir müssen alle daran arbeiten, es besser zu machen.

„Vater, vergib.“ Im Jahr 1958, achtzehn Jahre nach dem schrecklichen Bombenangriff auf Coventry und der Zerstörung von St. Michael’s Cathedral geht ein Gebet um die Welt, das diese Bitte aufnimmt und konkretisiert: die Versöhnungslitanei von Coventry.

Bereits in den Jahren zuvor hat die Versöhnungsarbeit an der Kathedrale größere Kreise gezogen: Als Symbol gemeinsamer Verantwortung für den Frieden wurde mehreren zerstörten Orten im Land des ehemaligen Feindes ein Nagelkreuz aus Coventry überreicht. Im Laufe der Zeit kamen Orte in anderen Ländern und neuen Krisengebieten, unabhängig vom Zweiten Weltkrieg, hinzu.

Menschen und Gemeinden, die sich besonders für Frieden und Versöhnung engagiert haben, sind mit dem Nagelkreuz, dem Symbol dieser Versöhnungsarbeit, beschenkt worden und zur Nagelkreuzgemeinschaft zusammengewachsen. Schon 1947, nur zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, ist das erste Nagelkreuz in das Land des ehemaligen Feindes gelangt, in die St. Nicolai-Gemeinde zu Kiel. Und nun also, 1958, das Gebet.

„Vater, vergib.“ Sieben Mal wird diese Bitte in der Versöhnungslitanei von Coventry wiederholt. Sieben Mal, weil die Zahl sieben eine symbolische Zahl ist.

Sie steht für eine unfassbar große Menge:
unfassbar groß ist die Schuld, die Menschen auf sich geladen haben und noch täglich auf sich laden.
Unfassbar groß sind Leid und Unrecht, das von uns ausgeht und unter dem andere Menschen leiden.
Unfassbar groß ist der Abstand zwischen uns und unserem Verhalten auf der einen und Gott und seinen Geboten auf der anderen Seite.

Die Versöhnungslitanei:

Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse:

Vater vergib!

Das Streben der Menschen und Völker zu besitzen, was nicht ihr Eigen ist:

Vater vergib!

Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet:

Vater vergib!

Unseren Neid auf das Wohlergehen und Glück der Anderen:

Vater vergib!

Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge:

Vater vergib!

Die Entwürdigung von Frauen, Männern und Kindern durch sexuellen Missbrauch:

Vater vergib!

Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott:

Vater, vergib!

In dieser Weise wird die Versöhnungslitanei von Coventry jeden Freitag zur Mittagszeit im Chorraum der Ruine der alten Kathedrale und in vielen Nagelkreuzzentren auf der ganzen Welt gebetet. Leider ist alles, was da angesprochen wird, auch heute immer noch aktuell. Beispiele dafür fallen sicher jeder und jedem von uns sofort ein.

Aber die Versöhnungslitanei hilft uns dabei, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen. Denn es sind ja nicht nur die anderen, die sich schlecht verhalten, die rassistisch denken. Nicht nur die anderen lassen die Flüchtlinge im Stich. Nicht nur die anderen schauen weg bei Gewalt gegen Frauen und Kinder. Sondern wir alle tun das, immer wieder. Und haben deshalb die Vergebung Gottes alle gemeinsam nötig.

Die Christen in Coventry haben das schon am Tag nach der Zerstörung begriffen. Und sie werden bis heute nicht müde, sich für Versöhnung einzusetzen. Und wir? Wir können Gott und den Geschwistern in Coventry danken, indem wir unsererseits Schritte auf dem Weg zur Versöhnung gehen.

Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse, können wir bekämpfen, indem wir öffentlich zu Versöhnung und Frieden aufrufen und unsere Kinder die Nächstenliebe lehren. Der Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet, können wir entgegentreten, indem wir für weltweite Gerechtigkeit eintreten und, wo immer es uns möglich ist, fair gehandelte Waren erwerben.

Der mangelnden Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge können wir abzuhelfen versuchen, indem wir nicht mitmachen, wenn andere gegen Flüchtlinge hetzen. Und daran erinnern, dass, wer einen Flüchtling aufnimmt, es mit unserem Herrn Jesus Christus selbst zu tun bekommt.

Wir können mit offenen Augen durch die Welt gehen und uns überall da einmischen, wo Menschen gedemütigt, sexuell belästigt und missbraucht werden. Bei all unseren Bemühungen um Versöhnung können wir die Quelle im Blick behalten, aus der wir täglich Kraft schöpfen können und sollen.

Von ihr ist ganz am Ende der Versöhnungslitanei von Coventry die Rede, wo aus dem Brief an die Epheser zitiert wird:

„Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebe einer dem anderen, wie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus.“

Ein Gebet:

O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens,

dass ich Liebe übe, wo man sich hasst,

dass ich verzeihe, wo man sich beleidigt,

dass ich verbinde da, wo Streit ist,

dass ich die Wahrheit sage, wo der Irrtum herrscht,

dass ich den Glauben bringe, wo der Zweifel drückt,

dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält,

dass ich ein Licht anzünde, wo die Finsternis regiert,

dass ich Freude mache, wo der Kummer wohnt.

Ach Herr, lass du mich trachten:

nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;

nicht dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;

nicht dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.

Denn wer dahingibt, der empfängt;

wer sich selbst vergisst, der findet;

wer verzeiht, dem wird verziehen; und wer stirbt, erwacht zum ewigen Leben. Amen.