Adler!

Geschichten mitten aus dem Leben

 

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Es ist ein lauer Abend im August. Das Wetter ist einfach schön - nicht zu heiß, nicht zu kalt, trocken. An meinem ersten Urlaubstag im schönen Allgäu sitze ich erschöpft vom Wandern, aber glücklich, auf meinem großzügigen Hotel-Balkon und lasse den Tag mit einer großen Tasse Tee ausklingen. Ich habe einen großartigen Blick auf die Schlösser „Neuschwanstein“ und „Hohenschwangau“ und auf die Alpen und kann mein Glück kaum fassen, dass ich es mit der Wahl der Urlaubsunterkunft in diesem Jahr so gut getroffen habe.

Ich lasse den Tag revuepassieren, freue mich darüber, viel Schönes gesehen und erlebt zu haben, genieße nun nach diesem gelungenen ersten Urlaubstag die Ruhe und Stille des Abends, den Moment, und sitze einfach nur da und schaue mir die wunderbare Gegend an. Es ist nichts zu hören. Es ist einfach schön, ruhig, erholsam. Nach den ganzen Aufregungen und dem Stress der letzten Wochen und Monate kann ich nun endlich mal die Seele baumeln lassen. An mich denken – mich an schönen Dingen erfreuen – einfach nur in die Gegend gucken, ohne etwas tun zu müssen. Ich freue mich. Herrlich!

Nach kurzer Zeit höre ich von Weitem ein leises Motorengeräusch, das langsam aber stetig immer lauter wird. Was stört denn da diese tolle Abendstimmung? Ich suche den Horizont nach dem Übeltäter ab. Während ich so den Blick schweifen lasse, sehe ich nicht weit entfernt ein paar Gleitschirmspringer, die sich in behutsamen Runden vom Gipfel des Tegelbergs ins Tal fallen lassen. Nein, von Ihnen kann dieses Geräusch nicht kommen, die segeln ja nur – ohne Motoren-Antrieb. Ich suche weiter. Nach kurzer Zeit erblicke ich nicht sehr weit über den Bergspitzen ein kleines Motorflugzeug, das sich zusehends nähert.

Ich sehe, wie das kleine Flugzeug sich von links nach rechts über die Bergkette bewegt und hoffe noch, dass dieses Motorengeräusch rasch wieder leiser wird und möglichst bald ganz wieder verschwindet, als ich plötzlich noch ein anderes Geräusch wahrnehme.

Es erinnert mich an einen Schrei, einen Ruf und Erinnerungen werden in mir wach. Sofort gehen meine Gedanken auf die Reise. Es mag sich komisch anhören, doch ich meine dieses Geräusch schon einmal in einem Videofilm gehört zu haben, als unsere Kinder (mittlerweile längst erwachsen) noch klein waren. Eigenartig, dass man sich an solche Nebensächlichkeiten erinnert. Aber ich bin mir sicher: Ich erinnere mich an den Film „Bernhard und Bianca im Känguruland“, in dem ein kleiner Junge versucht, die Eier eines Adlerweibchens vor Diebstahl zu schützen, um die Adler vor dem Aussterben zu bewahren. - Verrückt. - Aber kann das sein? Ist es möglich, dass es hier in den Alpen noch Adler gibt? Meine Neugier ist geweckt. Und wieder suche ich den Horizont ab. Es dauert nicht lang, das Motorengeräusch wird allmählich schon wieder leiser, das Flugzeug entfernt sich schon wieder, da steigt ein sehr großer Vogel zwischen den Bergspitzen empor. Er fliegt hoch in die Luft. Und ich bin baff erstaunt, wie elegant er wellenförmig durch die Lüfte gleitet.

Und wieder dieser Schrei und noch einer. Es hört sich fast so an, als beschwere er sich über diese Geräuschbelästigung. Ich bin tief beeindruckt, kannte ich Adler doch bislang nur aus dem Zoo, wo Adler in viel zu kleinen Volièren sitzen und die Schönheit der Tiere gar nicht so richtig zur Geltung kommt und eher ein trauriges Bild abgeben.

Und jetzt blicke ich in den Himmel und schaue diesem Tier staunend hinterher, wie es majestätisch, elegant und mittlerweile ruhig seine Kreise zieht. Sowas habe ich noch nie gesehen. Ich freue mich für den großen Vogel, dass er frei ist. Ich freue mich für ihn, dass er sein Leben hier leben kann, in dieser wundervollen Umgebung, ohne zu wissen, was es in der Welt im Moment für Widrigkeiten und Gefahren gibt. Ich freue mich, dass er einfach sein darf - frei, hier und jetzt.

Seit diesem Erlebnis schaue ich jeden Abend von meinem Balkon aus in die Ferne, in den Himmel und suche ihn nach meinem Freund ab. Ich lasse meine Blicke über die ganze Bergkette schweifen, immer in der Hoffnung, dass er gleich aufsteigt und ich ihn bewundern kann. Manchmal dauert es eine ganze Weile, bis ich ihn entdecke, meist angekündigt mit diesem typischen Schrei. Geduldig warte ich jeden Abend, bis ich ihn wenigstens einmal kurz gesehen habe. Er gibt mir Ruhe, Frieden, gute Gedanken, Zufriedenheit. Es ist wie ein Ritual. Es tut mir gut.

„Die auf Gott harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“ (Jesaja 40, 31)

Dieser Spruch fiel mir gleich am ersten Abend ein – und wie gut er gerade zu mir passt!

Natürlich habe ich mich die ganze Zeit über gefragt: „Kann es überhaupt sein, hier Adler zu sehen? Leben die überhaupt hier? Ich kenne mich mit sowas zu wenig aus, als dass ich darauf eine gesicherte Antwort hätte, doch beschäftigt mich diese Frage tatsächlich die ganze Zeit. Ich möchte es genauer wissen. Sobald ich wieder zu Hause bin, nehme ich mir vor, werde ich mal recherchieren…

Während unseres Aufenthaltes im Allgäu finde ich in einem Flyer-Kasten an der Tegelberg-Talstation den Allgäu-Knigge. Sowas gibt es! In diesem wird ausgeführt, dass es in der Gegend tatsächlich u. a. Adler geben kann. Wanderern und Kletterern werden die Benimm-Regeln in den Bergen aufgezeigt, um Adler nicht zu stören, was mich insgeheim bestätigt. „Ja.“ Ich habe einen Adler gesehen und sein Horst muss irgendwo da in den Bergen gegenüber meinem Hotel sein.

Jeder Urlaub geht einmal zu Ende und am letzten Urlaubstag warte ich wie immer darauf, „meinem“ Adler noch einmal Gute Nacht zu sagen, als ich schon nach kurzer Zeit gleich drei große Vögel am Horizont erblicke. Wow! Sie ziehen sehr weite, große Kreise, fliegen wellenförmig, ruhig, abwartend … und ich kann sie wirklich eine ganze Zeitlang von meinem Balkon aus bewundern. Der Versuch, meine Freunde zu fotografieren schlägt fehl, da meine Handy-Kamera das leider nicht hergibt, wollte ich doch so gerne davon erzählen und mit Fotos untermauern, wie schön und beeindruckend diese Vögel sind.

Doch allmählich werde ich stutzig. Hm. Sind Adler nicht eigentlich Einzelgänger? Ist es nicht eher unwahrscheinlich gleich drei gleichzeitig zu sehen? Zu Hause angekommen durchforste ich das Internet nach Antworten.

Ich finde eine Seite, die mir neben ganz vielen Bildern, Erläuterungen und Erklärungen die Schreie von Großvögeln vorspielt und so langsam wird mir klar: Adler werden es wohl vielleicht doch nicht gewesen sein, die mir so sehr ans Herz gewachsen sind – eher Rotmilane, die in der Region dort noch häufig anzutreffen sind. - Bin ich enttäuscht? Nein, ich glaube nicht. Denn die Gefühle sind doch dieselben und das Erlebte ist erlebt.

Für meine Gedanken kann ich nichts, und das, was ich empfunden habe, war ehrlich und schön. Ein rundum gelungener Urlaub. Der für’s nächste Jahr ist schon gebucht. Vielleicht treffe ich meine Freunde wieder. Da ist es doch eigentlich egal, ob es Adler oder Rotmilane sind. Die Vorfreude auf ein Wiedersehen ist jedenfalls groß.

 

Anja Drechsler