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I love you

Geschichten mitten aus dem Leben

 

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privat

Es ist Samstagmorgen. Die Nacht war kalt. Das Thermometer zeigt noch jetzt Minusgrade an. Auf dem Weg in den Ort komme ich an der mir vertrauten Bushaltestelle vorbei. Schon von Weitem sieht man das sonst eher unauffällige, durchsichtige Häuschen sehr gut, jetzt, wo es so komplett mit Rauhreif bedeckt ist, weil es sich durch den Milchton farblich gut von der Umgebung absetzt. Und als ich näherkomme, fällt mir ein Schriftzug auf.

„Ja, ja. Das kennt man ja“, werden Sie vielleicht denken. Wer in einer Großstadt lebt, hat sich an den Anblick längst gewöhnen müssen. Überall wohin man schaut, sieht man irgendwelche Schriftzeichen, sog. Tacs, oder Zeichen oder Malereien in den unterschiedlichsten Farben. Manchmal lesbar, manchmal nicht. Manchmal grammatikalisch richtig, manchmal nicht, oft übereinander mit Lackfarben gesprayt oder mit wasserfesten Filzschreibern gekritzelt, mal bunt, mal schwarz. Schade ist dabei, dass es Menschen gibt, die keinen Respekt vor dem Eigentum anderer haben oder über die Folgen nicht nachdenken oder sie ignorieren.


 
 

Aber dieses Mal lese ich etwas ganz anderes:

Ein großes I, ein Herz und ein großes U. „I love you“ steht da sehr gut lesbar an der Seitenscheibe dieses Haltestellen-Häuschens. Und was es bedeutet, weiß heutzutage fast jeder, der ein bisschen englisch kann: „Ich liebe dich“.

Da wird mir trotz der kalten Außentemperatur ganz warm ums Herz. Woran hat der Schreiber gedacht, als er diese beiden Buchstaben und das Herz mit dem Finger auf die gefrostete Scheibe gezeichnet hat? Mit Sicherheit nicht an Protest, Ärger oder Provokation. Kann ich mir nicht vorstellen. Nein – ich bin sicher, der Verfasser hatte dabei schöne Gedanken. Ich überlege, was diesen Menschen dazu bewogen hat, dies an die Scheibe zu malen. Ist sie oder er vielleicht gerade verliebt und möchte das mitteilen? Möchte sie oder er uns Mitmenschen in dieser unruhigen Zeit vielleicht Mut machen und uns zeigen, es gibt auch schöne Dinge im Leben!? Fühl dich geborgen, du wirst geliebt. Fühl dich angesprochen, ja, du bist gemeint. Na ja, vielleicht wurde dem Verfasser auch lediglich die Zeit zu lang und hatte nur Langeweile, während er auf den Bus wartete… Dann hätte man aber auch was anderes malen können, oder!? Also ich habe mich darüber gefreut, mit aufmunternden Worten in den Tag zu starten. Ich habe mich darüber gefreut, dass jemand eine kleine Aufmunterung, eine kleine Liebesbotschaft für wen auch immer hinterlassen hat – für eine begrenzte sichtbare Zeit, vielleicht für eine unsichtbare lange Zeit. Wer weiß das schon?

Und das Beste: Sobald es wieder wärmer wird, verschwindet dieser kleine Schriftzug von selbst, muss nicht kostspielig wieder entfernt werden, niemand kommt zu Schaden, doch kann er trotzdem weiter in uns wirken.

 

Anja Drechsler